Eine Entscheidung des BGH vom 14.02.20191 macht deutlich, dass ein Rechtsanwalt die Angaben des Mandanten zum Zeitpunkt des Zugangs eines Kündigungsschreibens, das ausweislich der Aufschrift „per Boten“ zugestellt wurde, nicht ungeprüft übernehmen darf.

In dem vom BGH zu entscheidenden Fall erklärte der Arbeitgeber der Klägerin mit Schreiben vom 22.12.2011 die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Das Kündigungsschreiben wurde durch einen Boten am selben Tag um 10:52 Uhr in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen und trug die Aufschrift „per Boten“. Anfang Januar suchte der Ehemann der Beklagten den nunmehr beklagten Rechtsanwalt auf, legte ihm das Kündigungsschreiben vor, erklärte, es sei der Klägerin am 23.12.2011 zugestellt worden und beauftragte den Anwalt mit der Erhebung der Kündigungsschutzklage. Dieser erhob sodann am 13.01.2012 Kündigungsschutzklage. – Einen Tag zu spät, wie das Arbeitsgericht nach Widerruf eines Abfindungsvergleichs durch die Beklagte, ausgehend von einem Zugang des Kündigungsschreibens am 22.12.2011, sodann feststellte. Die Klägerin nahm darauf den Kollegen wegen der verspäteten Einreichung der Kündigungsschutzklage auf Erstattung des Verdienstausfalls i.H.v. rund 26.000 Euro in Regress. Das OLG Hamburg2 vertrat noch die Auffassung, der Beklagte habe seine Pflichten nicht schuldhaft verletzt, da er sich auf die Angabe des Ehemanns der Klägerin zum Zugangszeitpunkt der Kündigung habe verlassen dürfen. Der Umstand, dass ein Schreiben bereits am Tag vor der Entnahme aus dem Briefkasten zugegangen sein könnte, hätte auch einem juristisch nicht vorgebildeten Mandanten bekannt sein müssen, weshalb der Beklagte nicht zu Nachfragen verpflichtet gewesen sei. Er habe vielmehr voraussetzen dürfen, dass jemand, der einen Zustellungszeitpunkt mit solcher Bestimmtheit behauptet, dies in dem Wissen tue, dass er am Vortag seinem Briefkasten geleert habe und das Schreiben darin nicht vorgefunden habe. Insbesondere habe der Kollege aus der Aufschrift „per Boten“ nicht auf einen Zugang bereits zum 22.12.2011 schließen müssen.

Der BGH sah dies anders. Der beklagte Rechtsanwalt hätte sicherstellen müssen, dass die Kündigung der Klägerin nicht vor dem 23.12.2011 zugegangen sei. Hierzu hätte er nachfragen müssen. Der BGH sagt hierzu: „Auf die Richtigkeit tatsächlicher Angaben seines Mandanten darf der Rechtsanwalt dabei so lange vertrauen und braucht insoweit keine eigenen Nachforschungen anzustellen, als er die Unrichtigkeit der Angaben weder kennt noch erkennen muss.”3 Bei der Beurteilung eines rechtlichen Geschehens muss der Anwalt jedoch stets damit rechnen, dass der Mandant die hierzu erforderlichen Beurteilungen nicht allein vornehmen kann. Teilt der Mandant somit Rechtstatsachen mit, hat sie der Anwalt durch Rückfragen aufzulösen oder sogar weitere Ermittlungen anzustellen, wenn dies keine zuverlässige Klärung erwarten lässt.4 Die Angaben des Mandanten über den Zugang einer Kündigung betreffen – so der BGH – eine sog. Rechtstatsache, denn der im Gesetz verwendete Begriff des Zugangs wird rechtlich bestimmt. Hier kommen die Grundsätze zum Zugang von Willenserklärungen unter Abwesenden zum Tragen, ferner die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Einwurf eines Briefs in den Briefkasten des Empfängers. Hier ist der Zugang nämlich bewirkt, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist.5 Dies hat zur Folge, dass ein Schreiben am Tag seines Einwurfs im Briefkasten als zugegangen gilt, wenn nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme durch den Adressaten noch am gleichen Tag zu erwarten war.6 Erst dann, wenn die Erklärung den Briefkasten des Empfängers zu einer Tageszeit erreicht, zu der nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme durch den Adressaten nicht mehr erwartet werden kann, ist die Willenserklärung nicht mehr an diesem Tag, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen.

Aufgrund dieser Umstände durfte der beauftragte Kollege nicht darauf vertrauen, dass die Angabe zum Zugangszeitpunkt der Kündigung durch den Ehemann der Klägerin richtig war. Insbesondere das von ihm vorgelegte Kündigungsschreiben, datiert auf den 22.12.2011 und versehen mit der Aufschrift „per Boten“, hätte den Kollegen – so der BGH – zur Nachfrage veranlassen müssen, denn es kam zumindest in Betracht, dass das Schreiben auch bereits am 22.12.2011 durch einen Boten zu einer Tageszeit in den Briefkasten eingelegt wurde, als mit der Entnahme noch zu rechnen gewesen wäre. Lediglich dann, wenn die Äußerung des Ehemanns dahingehend zu verstehen gewesen wäre, dass am Tag zuvor der Briefkasten noch zu einem Zeitpunkt geleert worden sei, zu dem noch mit Entnahme gerechnet werden konnte, das Kündigungsschreiben sich jedoch nicht darin befunden habe, hätte der Kollege die Auskunft des Ehemanns zum Zugang des Kündigungsschreibens seinem weiteren Vorgehen zugrunde legen dürfen. Vorliegend hätte somit der Kollege beim Ehemann der Klägerin oder der Klägerin selbst durch Nachfragen klären müssen, ob das Kündigungsschreiben nicht bereits einen Tag zuvor zugegangen sein konnte. Fehlten hierzu sichere Erkenntnisse, hätte der Kollege den sichersten Weg wählen müssen und die Kündigungsschutzklage bereits am 12.01.2012 einreichen müssen. Die ungeprüfte Zugrundelegung der Informationen des Ehemanns der Klägerin stellten daher nach Ansicht des BGH eine Pflichtverletzung dar.

Hier nochmals der Orientierungssatz des BGH als Leitsatz für das anwaltliche Vorgehen in Kündigungsstreitigkeiten:

Wenn ein Kündigungsschreiben mit einem Datum und mit der Aufschrift ‚per Boten’ versehen ist, darf der Rechtsanwalt die Mitteilung des Mandanten, das Kündigungsschreiben sei am Folgetag, also am Tag nach dem Datum des Schreibens, zugestellt worden, nicht ohne weiteres seinem Vorgehen zugrunde legen. Denn es kommt in Betracht, dass das Schreiben bereits am Tag des Datums des Schreibens durch einen Boten zu einer Tageszeit in den Briefkasten des Mandanten eingeworfen wurde, als mit einer Entnahme noch am selben Tag gerechnet werden konnte.“7

Fußnoten

1) BGH, Urt. v. 14.02.2019 – IX ZR 181/17.
2) OLG Hamburg, Urt. v. 30.06.2017 – 5 U 238/16.
3) BGH, Urt. v. 14.02.2019 – IX ZR 181/17 Rn. 9.
4) BGH, Urt. v. 21.04.1994 – IX ZR 150/93.
5) BGH, Urt. v. 05.12.2007 – XII ZR 148/05.
6) OLG Karlsruhe, Urt. v. 09.02.2018 – 8 U 117/17 Rn. 19 ff.
7) BGH, Urt. v. 14.02.2019 – IX ZR 181/17.