Möglicherweise trägt dieses Editorial die längste Überschrift seit langem. Jedoch bringt bereits der Titel das Problem recht klar auf den Punkt. Die Ausgangslage ist folgende:

Das BAG hat im Jahr 2012 entschieden, dass es grundsätzlich im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers steht, im Einzelfall von Arbeitnehmern die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer schon vom ersten Tag der Erkrankung an zu verlangen.1 Einen sachlichen Grund hierfür benötigt der Arbeitgeber nicht. Arbeitnehmer sehen eine solche Anordnung erfahrungsgemäß kritisch und der Betriebsrat hat in der Regel Interesse daran, bei diesem Thema eingebunden zu werden – Stichwort Mitbestimmung. Wann hat der Betriebsrat jedoch mitzubestimmen und wann nicht? Mit dieser Frage hatte sich das BAG kürzlich noch einmal auseinanderzusetzen.2 Denn grundsätzlich besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG bei Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. Arbeitnehmer erbringen nämlich ihre vertraglich geschuldete Leistung innerhalb einer vom Arbeitgeber vorgegebenen Arbeitsorganisation und unterliegen deshalb seinem Weisungsrecht, aufgrund dessen der Arbeitgeber Regelungen vorgeben kann, die das Verhalten der Arbeitnehmer koordinieren und gestalten. Entscheidend für die Mitbestimmung des Betriebsrats ist jedoch, dass es sich um einen kollektiven Sachverhalt handelt, wenn also die entsprechenden Anordnungen des Arbeitgebers regelhaft erfolgen, sich beispielsweise an alle Arbeitnehmer richten.3

In dem vom BAG aktuell entschiedenen Fall fehlte es jedoch an einem solchen kollektiven Sachverhalt. Die Arbeitgeberin mit mehr als 1.000 Arbeitnehmern hat seit dem Jahr 2018 lediglich 17 Arbeitnehmern die nachfolgende, immer gleichlautende schriftliche Anordnung erteilt:

(…) in Abstimmung zwischen Ihrem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter sind Sie ab Erhalt dieses Schreibens bis auf Widerruf dazu verpflichtet, jede Krankmeldung durch ein ärztliches Attest – vom ersten Fehltag an – im Service Center Personal vorzulegen.

Bitte beachten Sie, dass arbeitsrechtliche Maßnahmen eingeleitet werden, wenn Sie dieser Nachweispflicht nicht nachkommen. (…)

Jedoch lasse sich – so das BAG – der kollektive Bezug nicht allein aus der Gleichförmigkeit des Inhalts, der Form und des jeweils vorausgehenden Verfahrens (Abstimmung zwischen den Fachvorgesetzten und dem Personalleiter) herleiten. Denn darin liege noch keine Regelausübung bei der Geltendmachung des Verlangens. Entscheidend sei vielmehr, dass das „Ob“ der Geltendmachung regelhaft erfolgt sei. Dafür gab es jedoch keine Anhaltspunkte. Zwar hat das BAG den Vortrag des Betriebsrats als zutreffend unterstellt, dass die Arbeitgeberin die Anordnung gegenüber Arbeitnehmern mit „häufigen Kurzerkrankungen“ oder mit „hohen Fehlzeiten, darunter vielen Einzelfehltagen“ getroffen haben soll. Jedoch lässt sich auch hieraus kein regelhaftes Vorgehen schließen. Vielmehr zieht das BAG daraus den Schluss, dass die Umstände, die zu der „Attestauflage“ geführt haben, jeweils einzelfallbezogen waren. Weiterhin ließ sich der kollektive Bezug auch nicht aus dem Umstand herleiten, dass der Arbeitgeber theoretisch allen Arbeitnehmern im Unternehmen eine „Attestauflage“ hätte erteilen können. Denn allein diese Möglichkeit führt noch nicht zu einer von der Arbeitgeberin aufgestellten und praktizierten Regel. Auch der der jeweiligen Anordnung zugrunde liegende Entscheidungsprozess spricht gegen den kollektiven Bezug, da die „Attestauflage“ stets in Abstimmung zwischen dem jeweiligen Fachvorgesetzten des betroffenen Arbeitnehmers und dem Personalleiter erging, also einzelfallbezogen entschieden wurde.

Erlässt der Arbeitgeber eine „Attestauflage“ daher ausschließlich aufgrund der individuellen Besonderheiten eines einzelnen Arbeitsverhältnisses, entfällt ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Nur dann, wenn der Arbeitgeber eine von ihm selbst gesetzte Regel vollzieht, beispielsweise durch eine „Attestauflage“ gegenüber allen Arbeitnehmern, gegenüber einer bestimmten Gruppe von Arbeitnehmern oder bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, führt dies zu einem gesetzlichen Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG.4

Fußnoten

  1. BAG, Urt. v. 14.11.2012 – 5 AZR 886/11 – BAGE 143, 315-320. ↩︎
  2. BAG, Beschl. v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22. ↩︎
  3. Vgl. BAG, Beschl. v. 23.08.2016 – 1 ABR 43/14 Rn. 17. ↩︎
  4. BAG, Beschl. v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22 Rn. 25. ↩︎