Wenn ein Arbeitnehmer mehrere Jahre lang so sehr die körperliche Nähe dreier Kolleginnen sucht, dass diese versuchen, ihm auszuweichen; wenn er sie mehrfach am Oberschenkel oder am Gesäß berührt, sie umarmt oder bedrängend anstarrt – dann stellt dies doch eine sexuelle Belästigung dar, wegen derer der Arbeitgeber außerordentlich kündigen darf, oder?

Diese Frage hat ein Arbeitgeber für sich ganz klar mit Ja beantwortet und dem betreffenden Arbeitnehmer fristlos, hilfsweise fristgemäß, jeweils als Tat- und Verdachtskündigung wegen sexueller Belästigung gekündigt. Das LArbG1 Hamm hielt die Kündigung für unverhältnismäßig, und zwar in erster Linie, weil eine vorangegangene Abmahnung fehlte.

Im sich anschließenden Kündigungsschutzverfahren hielt der Kläger sein Verhältnis zu den drei Kolleginnen für stets gut. Aus seiner Sicht haben sich sämtliche Unterhaltungen oder Berührungen im Rahmen des sozial adäquaten, guten kollegialen Miteinanders bewegt. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage vollumfänglich stattgegeben mit der Begründung, die Pflichtverstöße des Klägers seien nicht so konkret dargelegt worden, dass sie einer Beweisaufnahme zugänglich seien, ohne einen Ausforschungsbeweis darzustellen. Zudem habe die Beklagte den Kläger vor Ausspruch der Kündigung abmahnen müssen. Das LArbG Hamm schloss sich dem Urteil des Arbeitsgerichts an.

Nach Ansicht des LArbG Hamm war die Kündigung selbst dann unverhältnismäßig, wenn man den Tatsachenvortrag der Beklagten vollständig als richtig unterstelle. Liegt der Pflichtverletzung des Arbeitnehmers nämlich ein steuerbares Verhalten zugrunde, ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG grundsätzlich zunächst eine Abmahnung erforderlich. Nur dann, wenn bereits von vornherein erkennbar ist, dass eine Abmahnung das Verhalten des Arbeitnehmers auch zukünftig nicht ändern wird oder wenn es sich um eine besonders schwere Pflichtverletzung handelt, darf der Arbeitgeber auf eine Abmahnung verzichten.2 Sexuelle Belästigung ist somit kein absoluter Kündigungsgrund. Einen Automatismus in dem Sinne, dass jede sexuelle Belästigung eine fristlose Kündigung ohne Abmahnung nach sich zieht, gibt es nicht. Selbst bei unterstellter Richtigkeit der Vorwürfe erachtete das LArbG Hamm die Vorwürfe im vorliegenden Fall nicht so schwerwiegend, dass die Beklagte sie nicht erstmals hätte hinnehmen können. Denn obwohl die vorgelegten privaten WhatsApp-Chats eine den sexuellen Bereich berührende Kommunikation enthielten, seien die Vorwürfe der Kolleginnen letztlich doch recht vage gewesen, so dass die Grenzziehung zwischen einer sexuellen Belästigung und vermeintlich sozial adäquatem Verhalten recht schwer gewesen sei. Auch weil die beschuldigenden Kolleginnen die „Spielchen“ des Klägers über einen längeren Zeitraum mitgespielt haben, ohne den Kläger zu blockieren oder in sonstiger Weise auf Grenzüberschreitungen hinzuweisen, konnte nicht geschlossen werden, dass die Vorwürfe so schwer gewesen sein, dass eine Kündigung ohne Abmahnung möglich gewesen wäre. Weiterhin ging das Gericht davon aus, dass eine Abmahnung das Verhalten des Klägers in der Zukunft geändert hätte.

Auch aus der Tatsache, dass der Kläger sich uneinsichtig zeigte und die Vorwürfe bestritten hatte, habe nicht der Schluss gezogen werden können, dass eine Abmahnung entbehrlich gewesen sei. Denn der entscheidende Zeitpunkt für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit und einer etwaigen Entbehrlichkeit der Abmahnung ist der Zugang der Kündigung. Umstände, die erst danach auftauchen, können allenfalls Grundlage für eine weitere Kündigung oder einen Auflösungsantrag sein. Dies gilt selbst dann, wenn der Kläger im Rahmen einer Anhörung und bis zuletzt die von den Mitarbeiterinnen erhobenen Vorwürfe bestritten hat. Denn sonst sieht sich ein unschuldiger Arbeitnehmer möglicherweise veranlasst, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einzuräumen, um sich das Erfordernis einer Abmahnung zu sichern. Die Kündigung durch die Beklagte ohne vorhergehende Abmahnung war daher unverhältnismäßig.

Arbeitgeber, die eine Kündigung wegen sexueller Belästigung aussprechen möchten, sollten daher stets zuvor den Ausspruch einer Abmahnung in Betracht ziehen. Nur in schwerwiegenden Fällen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz kann eine Abmahnung entbehrlich sein. Nach Ansicht des BAG3 ist eine Abmahnung nur dann entbehrlich, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass auch nach einer Abmahnung eine zukünftige Verhaltensänderung nicht zu erwarten ist, oder wenn „es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist.“

Fußnoten

1) LArbG Hamm, Urt. v. 23.02.2022 – 10 Sa 492/21.

2) BAG, Urt. v. 20.05.2021 – 2 AZR 596/20 Rn. 26 ff.; BAG, Urt. v. 27.02.2020 – 2 AZR 570/19 Rn. 23; BAG, Urt. v. 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 Rn. 30; BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 Rn. 22; jeweils m.w.N.

3) BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 – BAGE 150, 109-116.

(AnwZert ArbR 2022)