Sicherlich kennen Sie das Prinzip der selektiven Wahrnehmung. Ist man erst einmal auf ein Phänomen gestoßen, glaubt man es plötzlich an allen Ecken zu sehen. So ging es mir in den vergangenen Monaten. Im Laufe des Jahres bin ich – vermutlich im Rahmen einer Recherche – auf mehrere Urteile zum Thema „Aufhebung der Prozesskostenhilfe“ gestoßen. In den darauffolgenden Tagen und Wochen ist mir aufgefallen, dass – gefühlt – ständig Entscheidungen zu diesem Themenbereich ergehen. Ich habe meine eigene Wahrnehmung dann überprüfen wollen und für das Zeitfenster des Jahres 2016 bei juris den Suchbegriff „§ 124 ZPO“ eingegeben. Im Jahr 2016 gab es zu diesem Suchbegriff bislang 61 Treffer, davon 29 im Bereich Arbeitsrecht. Vergleicht man dazu die Treffer für das Jahr 2016 zum Suchbegriff „§ 4 KSchG“ (46 Treffer) oder gar zu „§ 1 KSchG“ (169 Treffer), ist das Thema „Aufhebung der Prozesskostenhilfe“ doch recht häufig vertreten und hat die Gerichte anscheinend auch im Jahr 2016 hinreichend beschäftigt. Das BAG hat laut juris im Jahr 2016 nur eine Entscheidung zu diesem Thema getroffen, die ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten möchte.1 Das BAG hat nämlich festgestellt, dass § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO n.F. dahin auszulegen ist, dass die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung auch im Fall einer nicht unverzüglichen Mitteilung eines Anschriftswechsels oder einer wesentlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Partei voraussetzt, dass die Partei eine unverzügliche Mitteilung absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unterlassen hat.2 § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO besagt Folgendes: Das Gericht soll die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei entgegen § 120a Abs. 2 Satz 1 bis 3 ZPO dem Gericht wesentliche Verbesserungen ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse oder Änderungen ihrer Anschrift absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtig oder nicht unverzüglich mitgeteilt hat.

In dem vom BAG zu entscheidenden Fall war dem Kläger mit Wirkung vom 25.06.2014 Prozesskostenhilfe in vollem Umfang bewilligt worden mit der Maßgabe, dass der Kläger keinen eigenen Beitrag zu den Kosten der Prozessführung zu leisten hat. Im Januar 2015 konnte dem Kläger ein Schreiben des ArbG Wesel mit Angaben zur Höhe der Prozesskosten sowie weiteren Informationen unter der bislang angegebenen Anschrift nicht zugestellt werden3. Das Arbeitsgericht ermittelte sodann die neue Anschrift des Klägers mithilfe des Einwohnermeldeamtes. Durch Beschluss vom 02.12.2015 hat das Arbeitsgericht seinen Beschluss zur Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufgehoben. Obwohl der Prozessbevollmächtigte des Klägers sofortige Beschwerde einlegte und vortrug, der Kläger sei jedenfalls über ihn immer erreichbar gewesen, half das Arbeitsgericht der Beschwerde nicht ab und legte die Sache dem LArbG Düsseldorf4 vor. Dieses wies die sofortige Beschwerde des Klägers zurück und ließ die Rechtsbeschwerde zu. Das Landesarbeitsgericht begründete dies damit, dass der Kläger dem Gericht seine Adressänderung nicht unverzüglich mitgeteilt habe. Ein Zeitraum von einem Monat liege nicht mehr im Rahmen der Toleranz. Eine grobe Nachlässigkeit oder Absicht sei nicht erforderlich, denn das Merkmal „unverzüglich“ enthalte bereits ein subjektives Element.

Das BAG teilte die Ansicht des LArbG Düsseldorf nicht. Vielmehr sei § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO in der seit dem 01.01.2014 geltenden Fassung (im nachfolgenden n.F.) dahin auszulegen, dass es für die Aufhebung der Prozesskostenhilfe nicht ausreiche, dass die Partei dem Gericht eine wesentliche Verbesserung ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse oder eine Änderung der Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt hat. Hinzutreten müsse vielmehr auch noch ein qualifiziertes Verschulden in Form der Absicht oder der groben Nachlässigkeit. Dies ergebe sich aus der Systematik des § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, seiner Entstehungsgeschichte und seinem Sinn und Zweck. Denn bereits nach § 120a Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 ZPO n.F. habe die Partei eine wesentliche Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse und einen Anschriftenwechsel „unverzüglich“ mitzuteilen. Dass § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO weiterhin voraussetze, dass die Partei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit gehandelt hat, ergebe sich – so das BAG – aus der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift. Insbesondere soll das Gericht in die Lage versetzt werden, „jederzeit zu überprüfen, ob sich die für die Prozesskostenhilfe maßgeblichen wirtschaftlichen Verhältnisse in einem Umfang verbessert haben, dass der Bewilligungsbeschluss zulasten der Partei zu ändern ist.“5 Denn unterlasse die Partei diese Mitwirkung, könne das Gericht nur nach aufwändigen Ermittlungen ein Verfahren zur Änderung oder Aufhebung der Bewilligung betreiben. Der Rechtsverlust der Partei, nämlich der Verlust des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe, setze nach dem Rechtsgedanken des § 242 BGB allerdings ein schuldhaft unredliches Verhalten, mithin eine grobe Pflichtverletzung, also grobes Verschulden voraus. Die Aufhebung der Prozesskostenhilfe komme daher nur dann in Betracht, wenn in Fällen der unterlassenen unverzüglichen Mitteilung durch die Klagepartei diese ihrer Verpflichtung absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit nicht nachgekommen sei. Nicht bereits grob nachlässig handelt nach Ansicht des BAG somit derjenige, der seine Verpflichtungen schlicht vergesse oder ihnen schlicht nicht nachkomme. Die schlichte Verletzung der in § 120a Abs. 2 ZPO n.F. bestimmten Mitteilungspflichten indiziere somit noch keine grobe Nachlässigkeit.

Was ist also eine grobe Nachlässigkeit i.S.d. § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO n.F.? Das BAG sagt: auf jeden Fall mehr als leichte Fahrlässigkeit, nämlich eine besondere Sorglosigkeit. Der Maßstab der groben Nachlässigkeit entspricht nach Ansicht des BAG dem der groben Fahrlässigkeit. Grob nachlässig handelt hiernach nur derjenige, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss.6 Wenn man also von einem grob nachlässigen Verhalten sprechen will, so muss es sich um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Verhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt.7

Wann jetzt im Einzelfall einfache Fahrlässigkeit oder grobe Nachlässigkeit vorliegt, ergibt sich oftmals nur unter Abwägung aller objektiven und subjektiven Umstände. Zu berücksichtigen ist hierbei beispielsweise, was die Partei ansonsten getan hat, um ihre jederzeitige Erreichbarkeit durch das Gericht sicherzustellen und damit aufwändige Ermittlungen zu vermeiden. Will eine Partei sich hierauf berufen, muss sie hierzu substantiiert vortragen. Ein solcher Vortrag kann auch noch in der Beschwerdeinstanz erfolgen. Im vorliegenden Fall konnte das BAG daher keine eigene Sachentscheidung treffen (§ 577 Abs. 5 ZPO), was zu einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LArbG Düsseldorf zur erneuten Entscheidung führte. Nicht zu berücksichtigen war im vorliegenden Fall das Argument des Klägers, eine Anwendung von § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO n.F. scheide bereits deswegen aus, weil der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten im PKH-Verfahren vertreten wurde. Dieser Umstand führt nach Ansicht des BAG nicht dazu, dass die Partei von ihren Mitteilungspflichten befreit wäre. Denn in § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO n.F. hat „die Partei“ „dem Gericht“ den Anschriftenwechsel mitzuteilen. Darüber wird die Partei bei der Antragstellung im Formular auch belehrt. Die Kenntnisnahme von dieser Belehrung bestätigt der Antragsteller persönlich. In der Regel werden die Mandanten von ihren Prozessbevollmächtigten auch noch einmal separat auf ihre Mitteilungspflichten hingewiesen. Dennoch verschwinden manche Mandanten nach Abschluss des Verfahrens scheinbar spurlos. Oder sie reagieren auf Anschreiben oder E-Mails (oft noch die einzige Konstante im Leben vieler Menschen) einfach nicht mehr. Der Unmut bei den Gerichten ist daher zumindest nachvollziehbar. Umso besser, dass das BAG mit seiner Entscheidung Klarheit gebracht hat. Es bleibt dennoch die undankbare Aufgabe festzustellen, wann einfache Fahrlässigkeit und wann grobe Nachlässigkeit vorliegt.

Erschienen im: AnwZert ArbR 25/2016 Anm. 1