Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers nicht die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt, ist die Kündigung nach § 85 SGB IX i.V.m. § 134 BGB nichtig. Wie allerdings ist vorzugehen, wenn sich herausstellt, dass der gekündigte Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Kündigung einen GdB von 50 hatte, dieser jedoch im Kündigungszeitpunkt noch nicht durch das Versorgungsamt mit Bescheid festgestellt war? Hier bleibt dem Prozessvertreter oftmals nur die Möglichkeit, sich auf eine offenkundige Schwerbehinderung zu berufen. Dass dies ein schwieriges Unterfangen darstellen kann, zeigt der vom LArbG Rheinland-Pfalz[1] entschiedene Fall.

Der Arbeitgeber entschloss sich, seinen Betrieb stillzulegen. Am 25.04.2014 informiert der Geschäftsführer die Belegschaft über die geplante Betriebsstilllegung und die damit verbundenen Kündigungen. Im Jahr 2012 war dem Kläger ein GdB von 40 zuerkannt worden. Der Kläger behauptet, dieses Schreiben sei der Beklagten bekannt gewesen. Mit Schreiben vom 28.04.2014 kündigte die Beklagte sämtlichen Arbeitnehmern wegen der beabsichtigten Betriebsstilllegung. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 29.04.2014 zu. Auf den Verschlimmerungsantrag des Klägers hat das Versorgungsamt mit Bescheid vom 08.08.2014 ab Antragseingang am 05.05.2014 einen GdB von 50 festgestellt und dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt: Herzerkrankung, Nierenfunktionseinschränkung, Funktionsstörung der Wirbelsäule, Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Erschöpfungsdepression, Funktionsstörung der Zehen, Oberbauchbeschwerden und Schulterfunktionsstörung links.

Der Kläger trug vor, seine Schwerbehinderung sei im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses offenkundig gewesen. Aus diesem Grund habe es der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedurft. Der Beklagten sei bekannt gewesen, dass er laut Ursprungsbescheid vom 07.08.2012 an einer erheblichen Nierenfunktionseinschränkung, einer Herzerkrankung, einer Funktionsstörung der Wirbelsäule, an Funktionsstörungen der Zehen sowie Oberbauchbeschwerden, Schlafstörungen und Ohrgeräuschen gelitten habe. Im Nachgang habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Aufgrund eines beiderseitigen Tinnitus habe sich auch seine Hörfähigkeit verschlechtert, ebenso die Erschöpfungsdepression. Parallel hierzu habe sich seine Herzerkrankung intensiviert. Die Beklagte habe von seinem kritischen Gesundheitszustand Kenntnis gehabt. Die Beklagte trägt vor, ihr sei eine Schwerbehinderung des Klägers bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses überhaupt nicht bekannt gewesen, eine Offenkundigkeit liege nicht vor. Der Kläger habe zudem bis zu seiner stationären Behandlung im April 2014 nicht mehr Krankheitstage als die übrigen Arbeitnehmer aufgewiesen.

Das LArbG Rheinland-Pfalz verneinte die Offenkundigkeit der Schwerbehinderung des Klägers. Selbst wenn die Beklagte den Bescheid des Klägers vom 07.08.2012 gekannt haben sollte, so wurde darin lediglich ein GdB von 40 festgestellt. Der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft ist gegenüber dem Arbeitgeber jedoch nur dann entbehrlich, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist. Erforderlich ist aber hierbei nicht nur, dass das Vorliegen einer oder mehrere Beeinträchtigungen offenkundig ist. Offenkundig muss ferner auch sein, dass in einem Feststellungsverfahren der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 festgesetzt würde.[2] Der Kläger habe jedoch nichts dazu vorgetragen, dass eine vom Geschäftsführer der Beklagten wahrgenommene offenkundige Beeinträchtigung ebenso offenkundig mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten war. Der Kläger habe weiterhin auch nicht dazu vorgetragen, dass seine Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich waren oder sind, dass sie vom Geschäftsführer der Beklagten ohne sozialmedizinische Vorbildung als offensichtliche Schwerbehinderung wahrzunehmen und einzustufen waren. Zudem seien die in den Bescheiden angeführten gesundheitlich Beeinträchtigungen des Klägers in der Regel nicht so auffallend, dass sie dem Betrachter ins Auge gesprungen seien.

Nach Ansicht des BAG ist zur Anerkennung der Offenkundigkeit einer Schwerbehinderung erforderlich, dass der Kläger nachweisen kann, dass er die Beklagte zu einem bestimmten Zeitpunkt über seine Schwerbehinderung informiert hat. Ebenso ist der Kläger Beweis belastet für seinen Vortrag, die Beklagte habe seine Schwerbehinderung erkennen müssen. Der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber ist nur dann entbehrlich, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist.[3] Hierbei ist es nicht ausreichend, dass nur das Vorliegen einer oder mehrere Beeinträchtigungen offenkundig ist. Erforderlich ist ferner, dass für den Arbeitgeber auch offenkundig ist, dass der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde.

Der Schwachpunkt einer solchen Argumentationskette wird vermutlich bei dem Erfordernis liegen, dass für den Arbeitgeber auch eine Festsetzung des GdB auf wenigstens 50 offenkundig sein soll. Dies ist bei einem Geschäftsführer oder Betriebsinhaber ohne sozialmedizinische Vorbildung nahezu nie zu unterstellen, es sei denn, die körperliche Beeinträchtigung ist außergewöhnlich stark und somit vom Grad der Behinderung offensichtlich für jedermann.

Weiß der Arbeitgeber jedoch nichts von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und kündigt er diesem daher, ohne vorher die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt zu haben, ist der Arbeitnehmer, der sich auf seine Schwerbehinderteneigenschaft beruft, verpflichtet, den Arbeitgeber nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist – spätestens innerhalb von drei Wochen[4] – über seine bereits festgestellte oder beantragte Schwerbehinderteneigenschaft zu informieren. Anderenfalls verliert er den Sonderkündigungsschutz.

Informiert der Arbeitnehmer den Arbeitgeber bereits vor Zugang der Kündigung über seine diesbezügliche Antragsstellung beim Versorgungsamt, ist der Arbeitgeber ausreichend in die Lage versetzt, zumindest vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt zu beantragen.[5] Weitergehender Informationen durch den Arbeitnehmer bedarf es nach Ansicht des BAG nicht.[6] Insbesondere ist er nicht verpflichtet, das Datum der Antragstellung mitzuteilen oder seine Schwerbehinderung innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch Vorlage des Feststellungsbescheids nachzuweisen.[7]

 

[1] LArbG Rheinland-Pfalz, Urt. V. 12.01.2017 – 5 S a 361/16 – juris.

[2] so das BAG in seinem Urt. v. 13.10.2011 – 8 AZR 608/10 juris-Rn. 42 – juris

[3] vgl. BAG, Urt. v. 09.06.2011 – 2 AZR 703/09 – EzA SGB IX § 85 Nr. 7; BAG, Urt. v. 13.02.2008 – 2 AZR 864/06 – mwN, BAGE 125, 345 = AP SGB IX § 85 Nr. 5 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 83 – juris.

[4] Es gilt hier die Dreiwochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG, vgl. Rolfs in: ErfKomm § 85 SGB IX Rn. 9.

[5] BAG, Urt. v. 09.06.2011 – 2 AZR 703/09 –, juris-Rn. 31.

[6] BAG, a.a.O.

[7] BAG, Urt. v. 09.06.2011 – 2 AZR 703/09 – juris-Rn. 26.

 

Erschienen bei juris, AnwZert ArbR 5/2017 Anm. 1